Der Wagegang der Steinschen Mühle

Zunächst war es nur ein Wort, von dem ich mir nicht sicher war, ob ich es korrekt entziffert hatte. Daraus wurde ein Begriff, der mich rätseln ließ – und schließlich die Suche nach einem neuen Detail über die ehemalige Steinsche Mühle.

So kam es dazu: Nachdem ich den Kaufvertrag für die Herrenmühle in Gerstungen entdeckt hatte, machte ich mich ans Transkribieren des handschriftlichen „Kauffbriefs“ zwischen Herzog Johann Wilhelm (1666-1729) und meinem 8x-Urgroßvater Stephan Stein (1642-1709). In weiten Teilen war das Dokument recht gut zu entziffern, doch bei manchen Wörtern holte ich mir Unterstützung bei einer Lesehilfe-Gruppe bei Facebook.

„… einen WageGang, welcher nur zu Zeiten der großen Gewässer zu brauchen“1KaufBrieff zur Herrschafftl: Mahl= Schlag= Loh und WalchMühle zu Gerstungen an Steffen Steinen zu Heerda ao: 1701. LATh – HStA Weimar, Eisenacher Archiv, Herrschaftl. Güter, Nr. 631, Bl.2

So auch bei einem Wort, das in der Beschreibung der Mühlanlage auftauchte. „Wagegang“ las ich da an einer Stelle. Auch die Facebook-Gruppe erkannte dasselbe Wort. Demnach stand also im Kauffbrief, dass die Mühle verkauft wurde mit drei Mahlgängen, einem Loh- und Walkgang und eben jenem „WageGang, welcher nur zu Zeiten der großen Gewässer zu brauchen“ war. Der letztgenannte Gang ließ sich also nur bei Hochwasser nutzen.

Jetzt ging das Rätseln los. Die klassischen Mahlgänge für das Getreide, als auch der Lohgang zum Zerkleinern von Rinde für Gerber und der Walkgang zum Geschmeidigmachen von Leder sind bekannte Mühltechniken. Aber was ist ein Wagegang?

Die Gerstunger Mühle (um 1700) mit fünf Wasserrädern2Aus: Gerstunger Amts Beschreibung Auf ergangenen Fürstl. gn: Befehl. gefertigt a[nn]o: 1700. Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena. A. Cap. I No.22b

Bei genauem Hinsehen entdeckte ich auf dem Grundriss der Herrnmühle, der sich in der Gerstunger Amtsbeschreibung aus dem Jahr 1700 findet, einen entsprechenden Begriff: hier war das Gebäude auf der Werrainsel – dem sogenannten Werth – als „Wogmühle“ bezeichnet. Man darf wohl davon ausgehen, dass es sich hierbei um den im Kaufvertrag aufgeführten Wagegang handelt.

Laut einer Beschreibung der Mühle aus dem Jahr 1679 handelte es sich bei diesem Gebäude um eine Schlagmühle mit sechs Stampfvorrichtungen und einer Ramme zur Ölproduktion3vgl. C. Bernhardt u. D. Drude: Die Gerstunger Werramühlen. Geschichte und Geschichten. 2. Auflage. Freiberg, Gerstungen. 2011. S.29. Warum aber war in diesem Zusammenhang von einem Wagegang beziehungsweise einer Wogmühle die Rede?

Grundriss der Mühle (um 1700) – in der Mitte die Wogmühle4Aus: Gerstunger Amts Beschreibung Auf ergangenen Fürstl. gn: Befehl. gefertigt a[nn]o: 1700. Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena. A. Cap. I No.22b

Eine erste Suche im Internet lieferte keine sinnvolle Erklärung. Immerhin schien der Begriff nicht völlig unbekannt, gab es doch südlich von Fritzlar (Hessen) eine Waagmühle5„Waagmühle, Schwalm-Eder-Kreis“, in: Historisches Ortslexikon, https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/ol/id/4312 und auch in Neumorschen nahe des hessischen Melsungen existiert eine Wogmühle6„Wogmühle, Schwalm-Eder-Kreis“, in: Historisches Ortslexikon, https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/ol/id/15566. Eine Begriffserklärung fehlt leider auch hier.

Fündig wurde ich schließlich im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm. Hier wird der Begriff Wag erläutert als „hochgehendes, austretendes, überflutendes wasser“. Und weiter heißt es, insbesondere „bei den müllern ist der wag der theil des mühlbachs unterhalb des rades, wo sich durch das gefäll eine vertiefung gebildet hat, in der das wasser sich kreisend bewegt“7Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=wag.

Gut möglich also, dass das Gebäude mit dem Wagegang seinen Namen von dem hochstehenden Wasser erhielt, das zum Antreiben des Mühlrads nötig war – so wie es im Kaufvertrag von 1701 beschrieben wurde.


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