Manchmal stößt man bei der Suche nach den Ahnen ganz unverhofft auf spannende Informationen oder historische Details, mit denen man rechnet. So passierte es mir, als ich im Werratalmuseum in Gerstungen die historischen Amtsbücher auf der Suche nach Einträgen über meine Vorfahren durchblätterte. In diesem Fall wunderte ich mich schon vor dem Aufblättern des Erb- und Zinsregisters des Amtes Gerstungen von 1543, das im Museum in einer Vitrine ausgestellt wird. Als ich das Buch in dem Glaskasten umschlug und den Titel betrachtete, fiel mein Blick auf den abgegriffenen Einband des schweren Bandes. Da war eine Handschrift zu erkennen, die ganz offenbar älter war als die Aufzeichnungen auf den übrigen Seiten des Buches. Ich blätterte den Einband auf und sah, dass die Handschrift auf der Innenseite des Buchdeckels klar erkennbar war. Gut geschützt vor dem Staub und Schmutz der Jahrhunderte war sie deutlich lesbar geblieben. Nun hatte ich natürlich schon davon gehört, dass das Material älterer Handschriften in der Vergangenheit wiederverwendet wurde. Sei es, indem vorhandene Inhalte überschrieben oder – wie offenbar in diesem Fall – für den Einband eines Buches verwendet wurden.
Meine Neugier war geweckt. Dann las ich kürzlich auch noch, dass eine bislang unbekannte Handschrift des Theologen Meister Eckhart (ca. 1260 – 1328) aus Thüringen im Einband eines Buches entdeckt wurde. Eine kleine Sensation. Sollte das Buch in Gerstungen etwa auch … Ich schickte dem Handschriftenexperten Dr. Christoph Mackert von der Universitätsbibliothek Leipzig ein Foto meiner Entdeckung aus dem Gerstunger Museum. Dr. Mackert ist Leiter des Handschriftenzentrums der Universitätsbibliothek Leipzig und hatte mit seinem Team die Eckhart-Handschrift zuordnen können. Ich hoffte insgeheim natürlich, dass auch die Handschrift auf dem Bucheinband etwas Besonderes ist. Binnen kürzester Zeit kam die Antwort des Experten zurück.
„Das Gerstunger Fragment stammt aus einer Handschrift des Digestum Novum/der Pandekten, also einem Standardtext zum römischen Zivilrecht. Die Handschrift wurde in Italien wohl im mittleren 13. Jh. geschrieben, die Kommentierung auf dem Rand dürfte ins späte 13. oder frühe 14. Jh. fallen. Es handelt sich sicher um eine Handschrift aus dem Studienbetrieb der für die Rechtslehre renommierten (ober-)italienischen Universitäten. Viele solcher Handschriften aus dem italienischen und französischen Universitätsbetrieb sind mit den deutschen Studenten (im Deutschen Reich gab es damals keine Hohen Schulen) nach Norden gelangt und finden sich heute in deutschen Sammlungen, als vollständige Codices oder eben als Fragmente.“
Es ist also ein Gesetzestext, in den das Zinsregister des Amtes Gerstungen eingeschlagen wurde. Zu dem Zeitpunkt, als das Amtsbuch geschrieben wurde, war die Handschrift wohl schon 300 Jahre alt. Das war nicht ganz die Sensation, auf die ich insgeheim gehofft hatte, aber doch eine spannende Spontanbestimmung des Handschriftenexperten. Wann hat man schon die Chance, zufällig eine Handschrift aus dem Mittelalter in den Händen zu halten? Auf Nachfrage erklärte Dr. Mackert noch, dass ihm dieses Gerstunger Fragment bis dahin nicht bekannt gewesen war. „Die Handschriftenfragmente in Archiven sind in aller Regel völlig unaufgearbeitet und nicht oder extrem flach (‚Fragment eines mittelalterlichen Textes‘ o. ä.) erschlossen“, erklärt er.