Ein Tagebuch über Flieger-Alarm in Kassel

Als ich damit begann, die Geschichte meiner Familien zu erforschen, fragte ich meine Großmutter, ob es alte Unterlagen gebe, etwa einen Ahnenpass. Sie verneinte das und erst nachdem sie 2004 verstorben war, fanden sich eine Reihe von Akten und Aufzeichnungen im Keller. Darunter auch eine detaillierte Auflistung der Flieger-Alarme in Kassel.

Beginnend im September 1939 hatte meine Urgroßmutter Marie Kochendörffer (1882-1976), die Mutter meiner verstorbenen Oma, ein handschriftliches Tagebuch darüber geführt, wann Flieger-Alarm in Kassel ausgelöst wurde. Sie notierte Daten, Uhrzeiten, manchmal auch Schäden oder Ereignisse in der Familie.

„Flieger-Alarm in Kassel“, aufgezeichnet von meiner Urgroßmutter

In den ersten Kriegsjahren ist die Handschrift meiner Urgroßmutter sehr akkurat, gleichmäßig groß. Die Schäden lesen sich rückblickend vergleichsweise gering: „24. Juli 1940 = 12.30 – 3 Uhr Brandbomben auf Herkules-Brauerei, kleiner, schnell gelöschter Brand. Bomben auf [Flugzeugwerk] „Fieseler“ (nur Schuppen). Flieger soll in Ihringshausen abgeschossen sein.“ Oft notierte sie auch nur, dass „Flieger hörbar“ waren und die Flak geschossen hat.

1942 gingen bei meinen Großeltern Fenster zu Bruch

Im August 1942 ist erstmals auch die eigene Familie betroffen. Zu einem „Grossangriff auf die Stadt“ schreibt meine Uroma, dass in der Wilhelmshöher Allee „mehrere Häuser vernichtet, daher bei Stein’s durch Luftdruck Wintergarten, sehr viele Fenster Scheiben und Dach entzwei“. Gemeint ist das ehemalige Haus meiner Großeltern in der Stephanstraße, das nur eine Querstraße entfernt von der Wilhelmshöher Allee steht.

Die Liste der Flieger-Alarme ist fortlaufend nummeriert

Es folgen wiederum seitenlange Listen mit Flieger-Alarmen, zu denen oft nicht mehr als das Datum und die Uhrzeit genannt ist. Zu anderen Luftangriffen erwähnt sie, dass „Bleistifte etc. abgeworfen“ wurden, also kleine Explosivkörper. Auch den Angriff auf die Edertalsperre in der Nacht zum 17. Mai 1943 führt sie auf: „großes Hochwasser […] zusammen 47 Tote“. Tatsächlich starben in der Nacht wohl mehr als 1000 Menschen in den Fluten.

Jeder Alarm ist nummeriert, doch nicht jeden hat meine Urgroßmutter zuhause in Kassel registriert. So heißt es für den Zeitraum vom 12. September bis 3. Oktober 1943: „in Sooden verlebt, circa 8 x Alarm“. Dazu vergibt sie die Nummern 200-208.

„Terrorangriff auf die Stadt“ schrieb Uroma nach dem 22. Oktober 1943

Unter der Nummer 224 findet sich dann der Luftangriff vom 22. Oktober 1943, der Kassel in einem Feuersturm nahezu vollständig zerstörte. „Die ganze Stadt […] ein Trümmerhaufen unser Uhren-Geschäft [Kochendörffer] Köln Str. vollständig kaputt ebenso das Lorenz’sche Haus Gr. Rosenstr. wobei Fritz Lorenz [Uromas Bruder] u. Frau den Tod fanden. Ebenfalls viele liebe Bekannte u. Freunde […].“

Insgesamt kamen etwa 7000 Menschen bei diesem Angriff ums Leben, die Altstadt wurde zu etwa 97 Prozent zerstört, andere Stadtbezirke zu etwa 80 Prozent, wie man heute nachlesen kann.

Im Tagebuch der Flieger-Alarme in Kassel ist es der letzte Eintrag. Meine Urgroßmutter schrieb das Blatt voll. Dann verschwanden ihre Aufzeichnungen für Jahrzehnte. Am Tag nach dem Luftangriff wurden meine Großmutter mit ihren vier Kindern und kurz darauf auch meine Urgroßeltern aus Kassel evakuiert. Sie kehrten erst im Frühjahr 1945 in die Stadt zurück.


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