Im Jahr 1896 kam der Pfarrer und Autor Hermann Otto Stölten (1847-1928) als Superintendent nach Gerstungen. Dort traf er auf den Schneidmüller Georg Christoph Stein (1843-1920), den er als echtes Gerstunger Original kennenlernte und in einem launigen Text würdigte. Christoph Stein war mein Ur-Urgroßonkel dritten Grades. Den Text über ihn dokumentiere ich hier im Wortlaut.
Eine Perle in rauher Schale
Geboren am 17. Februar 1843, hat er die Mahl- und Schneidmühle an der Brücke [über die Werra Richung Herda] unlängst an seine drei Söhne abgetreten, von denen er hofft, dass sie friedsam miteinander wirtschaften, wenn ihre Frauen Frieden halten. Im Winter trägt er ein Schaffell mit der rauhen Seite nach innen, sein Sonntagsrock hat etwas altmodisches, seine Art zu sprechen und sich zu geben etwas ungeschliffenes, wie man es nach der köstlichen Photographie [zu sehen im Werratalmuseum in Gerstungen] des Herrn Warlitz erwartet.
Infolge allzu anstrengender Arbeit ist er früh gealtert. Keiner hat in seinem Leben wohl so wenig geschlafen wie er. Als die Söhne noch nicht mit im Geschäft waren, kam er oft nur auf knapp eine Stunde. Die Mühle ging Tag und Nacht. Von Montag bis Sonnabend kam er überhaupt nicht aus den Kleidern.
Am Sonntag dagegen hielt er strengste Sabbat-Ruhe. Dann geht er früh, im Sommer um 5 Uhr, hinaus auf den Fuldischen Berg. „Über die Natur geht nichts”, sagte er. Stein hört auf den Gesang der Lerche, die aus unsichtbarer Höhe den Morgen begrüßt, erfreut sich am Waldesgrün und an Gottes Segen in Feld und Flur. Er lauscht dem Klange der Glocken, die aus 13 Ortschaften herübertönen, „den Glocken, die uns von der Wiege bis zur Bahre begleiten.” Am besten hört man sie am Wintermorgen und am schönsten klingen die aus Berka, Obersuhl und Untersuhl.
Hierauf geht’s in die Kirche, aber die Predigt darf nicht zu lang sein, sonst schläft er ein. Während der ersten Jahre meiner Amtsführung hier war er vormittags und nachmittags regelmäßig Gast. Seit dem Winter 1899/1900 nicht mehr, angeblich weil meine Predigt zu lang ist. Es hat aber noch andere Gründe: Als wir damals die Kirchenheizung einführten war er sehr unzufrieden, dass man in der Kirche „nicht einmal mehr ein bißchen frieren dürfe”. Und als 1901 das Schiff der Kirche erneuert wurde, hat er zu den erbittertsten Gegnern gehört – trotz der Gedenktafel für seine Großeltern, die Stifter des Steinschen Legates, die ich so anbringen ließ, dass er sie von seinem Kirchenstuhl vor Augen hatte. Er hat kein Scherflein mehr geopfert und lange Zeit die Kirche vollständig gemieden. Hier verbindet sich Geiz mit der Anhänglichkeit an das Alte und Einfache.
Als die Rede auf unser Geläute und auf die kleine Glocke kam, die mißtönend die Harmonie stört und ich äußerte, warum wir Bedenken trugen ein besseres Geläut zu schaffen, meinte er: „Bei dieser Ansicht bleiben sie nur, Herr Superintertendent, wir wohnen in Bethlehem, nach Jerusalem wollen wir nicht!” Nebenbei weiß er zu erzählen, die kleine Glocke sei von Silber, und 1813, als die Kosacken kamen, im Wehr der Werra versteckt worden.
Sein Lieblingslied ist: „Was frag ich viel nach Geld und Gut, wenn ich zufrieden bin?” Überhaupt schätzt er das Volkslied hoch, steckt voll davon und bedauert nur, dass die Kinder von heute die „schönsten Lieder” nicht mehr singen können. So aber auch die Kirchenlieder, nur singt man sie häufig im Tempo „Hast du nicht gesehen!” Dann aber verstehe man nicht, was man singe.
Ein schönes Kirchenlied kann ihn zu Tränen rühren, zum Beispiel Nr. 508 („In Gottes Namen fang ich an”), Vers 1., 3. und 7. Auch hier bevorzugt er die alten Lieder, die man zu seiner Zeit in der Schule gelernt hat. Besonders lieb ist ihm das Lied „Auf Gott, und nicht auf meinen Rat …”, insbesondere der zweite Vers („Er sah vor aller Ewigkeit, wie viel mir nützen würde”), wie denn überhaupt der Glaube an das Walten Gottes bei ihm die Form eines ausgeprägten Vorsehungsglaubens, und zwar das wörtlich genommen, des Glaubens an eine Vorherbestimmung angenommen hat: „Der Mensch wird nicht zwei Tage zu früh geboren und stirbt auch nicht zwei Tage zu früh.”
Doch können auch neue Lieder sein Herz erobern, zum Beispiel Nr. 543: „O Sonntag, stiller Sonntagsengel.” Als ich dieses Lied im nassen Sommer 1896 zum ersten Mal habe singen lassen, ist er davon so ergriffen gewesen, dass – während viele Nachbarn sich draußen zu schaffen machten – Christoph den Seinen erklärte: „Gearbeitet wird nicht, wir wollen den Engel nicht stören.”
Auf der Hochzeit einer Nichte in Untersuhl wünschte das junge Volk nach beendigter Mahlzeit zu singen und stimmte ein weltliches Lied an. Da kam ihnen aber der Alte in die Quere. Zuerst musste „Nun danket alle Gott“ gesungen werden; erst nachher weltliche Lieder, so viele sie wollten. Überhaupt zeigte er sich bei dieser Gelegenheit in seiner ganzen Originalität. Einige mischten den Wein mit Selterswasser. Ich schob auch ihm die Flasche hin. Christoph schüttelte mit dem Kopf: „Wasser trinkt das liebe Vieh!“ Ich reichte ihm ein Glas Rheinwein. „Ist nicht meine Sorte.“ Und trank statt dessen Zwetschengeist in Quantitäten, dass man sich wundern musste, dass er nicht trunken wurde.
In früheren Jahren soll er gelegentlich den Branntwein etwas zu stark aufs Korn genommen haben, bis sich einmal unliebsame Folgen eingestellt haben. Von da ab hat er Jahre lang keinen Tropfen getrunken, will aber von grundsätzlicher Abstinenz nichts wissen.
Wer den Mann im Schaffell sieht und seine rauhen Manieren kennt, muss sich wundern, was für ein weiches Gemüt in ihm steckt. „Christoph ist gut”, sagt die alte Christel, seine hochbetagte Mutter, und das ist er: Gut zu Frau und Kinder, zu denen, die er mit seinem eisernen Fleiß und seiner Bedürfnislosigkeit in der Mühle ein warmes Bettlein bereitet hat. Gut auch gegen die Armen, denen er eine Unterstützung zukommen lässt oder umsonst beziehungsweise um ein Geringes eine Fuhre tut. Wenn es gilt, einen Leiterwagen zu stellen, um Kinder zu einer Maifahrt nach Vacha zu fahren oder Erwachsene zu einem christlichen Vereinsfest in der Diözese – möchten andere niemals Geschirr und Zeit dazu haben, Christoph war immer bereit.
Und stirbt einer, gewiss sieht man ihn im Gefolge. Jetzt sagt er selbst, dass es nicht mehr so gehen will. „Ich hab’s auf der Brust!” Doch hoffen wir, dass Dir noch ein langer Lebensabend bestimmt ist, mein lieber alter Christoph!
Superintendent Stölten
Gerstungen, 6. Juni 1904
[Nachtrag:] Die letzten zehn Jahre durch Asthma geplagt, ist er am 30. Januar 1920 sanft entschlafen. Im Schaffell um 1904 photographiert von Herrn Lehrer Warlitz.
Sup. a. D. Stölten
So ein Bericht ist Goldeswert