Die gefälschte Werra-Flut

In der Geschichte Gerstungens – des Ortes in Thüringen, in dem meine Vorfahren über Jahrhunderte lebten – spielten Niedrig- und Hochwasser der Werra eine wichtige Rolle. Eine der Mühlen der Familie konnte nur betrieben werden, wenn der Wasserstand besonders hoch war, aber Fluten überschwemmten auch immer wieder den Ort.

Eine solches Hochwasser-Ereignis ist auf einer Postkarte zu bestaunen, die vom Verlag Paul Hoffmann & Co. – 1904 in Berlin gegründet – vermutlich im Jahr 1909 aufgelegt wurde. Der Text auf der Karte beschreibt die Darstellung: „Von den Hochwasser-Schäden in Thüringen. Die Hauptstraße von Gerstungen, welche durch den Uferaustritt der Werra vollständig unter Wasser gesetzt ist.“

Postkarte des Berliner Verlags Paul Hoffmann, wohl 1909

Fakt ist: Im Februar 1909 kam es durch Schneeschmelze, Regen und Eisgang „zu einem der größten Hochwasser aller Zeiten“ im Werratal.1Manfred Lückert: Die Werra. Landschaft und Leben am Fluß zwischen Thüringer Wald und Hann. Münden. 4. Auflage. Bad Langensalza 2015. S. 118. Die zahlreichen Chroniken über Gerstungen berichten nicht über diese gewaltige Flut, aber der Pegelstand soll bei 4,52 m gelegen haben. Der durchschnittliche Pegel liegt bei 2,62 m.2Mathias Deutsch, Karl-Heinz Pörtge: Hochwasserereignisse in Thüringen. Das Hochwasser vom Februar 1909. In: Thüringer Landesanstalt für Umwelt und Geologie (Hrsg.): Schriftreihe der Thüringer Landesanstalt für Umwelt und Geologie. Nr. 63. Jena 2003, S. 45–52. (nicht eingesehen)

Der Haken ist jedoch: Die Postkarte zeigt vermutlich nicht die dramatische Hochwasser-Situation in Gerstungen im Jahr 1909 – und ganz sicher nicht die überflutete Hauptstraße. Tatsächlich handelt es sich bei dem Postkarten-Motiv um einen beliebten Blick auf Fachwerkhäuser, Schloß und Kirche in Gerstungen über das Ufer der Werra hinweg. Die gleiche Ortsansicht wurde etwa unter der Überschrift „Werrapartie“ um 1900 veröffentlicht.

Postkarte von Gerstungen mit Blick über die Werra, um 1900

Dort, wo also angeblich während des Hochwassers 1909 die Hauptstraße von Gerstungen überflutet war, fließt tatsächlich die Werra entlang. Der Fluss scheint auf der Postkarte zwar tatsächlich über die Ufer getreten zu sein, aber von einem Pegelstand von fast 2 Metern über dem durchschnittlichen Pegel scheint die Situation auf der Postkarte weit entfernt.

Die beiden Postkarten im Vergleich

Offenbar hat der Verlag die Darstellung auf der Postkarte manipuliert – so dass aus dem Hochwasser am Ende eine gefälschte Werra-Flut wurde.


2 Kommentare

  1. An den Autor dieser Seite:
    Ich halte diese Ansicht eines Hochwassers zu Gerstungen für keine Fälschung, denn dann müsste ja eine Absicht dahinter stehen, die dem Fotografen oder dem Verlag einen Nutzen bringen würde. Ein solcher Nutzen scheint nicht erkennbar. Diese Ansicht trägt links den Vermerk „Zensiert“ und passt in der Aufmachung auch zu sonstigen Fotografien, die im Ersten Weltkrieg entstanden sind. Diese Fotoaufnahme eines Großschadensereignisses musste der Zensurstelle vorgelegt werden, weil der Feind ja ansonsten Hinweise darauf bekommen könnte, dass deutsche Ressourcen wegen Hochwasserschädenbehebung gebunden sind. Anscheinend hat die Zensurstelle die Aufnahme trotzdem freigegeben. Demnach ist auf der Ansichtskarte im Großformat ein reales Hochwasserereignis zwischen 1914 und 1918 abgebildet worden. Man müsste wetterkundliche Institute oder andere thüringische oder benachbarte hessische Orte befragen, inwiefern dort Informationen über etwas stärkere Hochwasserereignisse zwischen 1914 und 1918 bekannt sind.
    Viele Grüße

    1. Lieber Harald Neuber,
      dass es sich um ein Hochwasser zwischen 1914 und 1918 handelt, scheint mir unwahrscheinlich, da die Quellen keine Überflutung in diesen Jahren nennen, sehr wohl aber das „Jahrhunderthochwasser“ des Jahres 1909 (vgl. das von mir zitierte Buch von Manfred Lückert, auf das auch bei Wikipedia verwiesen wird: https://de.wikipedia.org/wiki/Werrahochwasser_1909).
      Mein Vorwurf der Fälschung bei dieser Postkarte bezieht sich auch nicht auf die Datierung, sondern die Beschriftung: Es handelt sich hier eben nicht – wie auf der Karte behauptet – um die Hauptstraße von Gerstungen, sondern um die Werra selbst. Das zeigt auch der Vergleich mit anderen Postkarten, die den Blick über den Fluss auf die Häuser an der Werra zeigen.
      Beste Grüße
      Sven Stein

Schreibe einen Kommentar zu Harald Neuber Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert